Als ich vielleicht 10 Jahre alt war, drückte meine Mutter
mir das Tagebuch der Anne Frank in die Hand.
Ich las es und verstand nur sehr wenig.
Es berührte mich, dass dieses Mädchen eingesperrt leben musste, ich
bekam ein Gefühl für die Angst und die Ohnmacht dieser Familie.
Wir besuchten meine Stief-Oma in Idar-Oberstein. In meinen
Augen lebte sie in einem Palast: die Wände waren mit glänzenden Tapeten
bezogen, die Möbel sahen aus, wie in einem Schloss: geschwungen, verziert, sie
hatte ein riesiges Schlafzimmer mit einem begehbaren Kleiderschrank voll
wunderschöner Kleider. Vor der Tür stand ein Cabrio. Die Fenster waren
vergittert. Immer wieder schnappte ich Gesprächsfetzen auf „Ach, wenn Papa doch
noch leben würde.“, „Wenn er einen schlechten Tag hatte, war es schlimm.“.
Papa, das wusste ich, war mein Opa Janek, den ich nur von Fotos kannte und
Fotos die mir Angst machten. Ein alter Mann mit einem linkischen fast bösen
Blick. Ich fragte meine Mutter, warum er schlimme Tage hatte. Da erzählte sie mir eine Geschichte, die so
viele Fragen aufwarf, dass danach mein ganzes Leben anders war.
Mein Opa wurde 1900 in Odessa geboren. Seine Familie und er
waren Juden. Er war verheiratet und hatte drei Söhne. Die Nazis erschossen seine Frau und seine
Söhne. Mein Opa konnte fliehen und sich verstecken. Er war wohl auch in einem
Konzentrationslager. Aber er hat den Krieg überlebt und ist irgendwie in
Deutschland gelandet. Mit einem Koffer seidener Strümpfe baute er sich eine
Existenz auf. In Idar-Oberstein wurde er sesshaft, war Inhaber eines
„Nachtclubs“ und heiratete meine Oma. Er hatte noch eine Bar in Baumholder,
dort arbeitete eine Frau die ich unter dem Namen Tante Towa einmal
kennengelernt habe, denke es war die Frau eines seiner Brüder. Von dem Geld
kaufte er das große Haus in Idar-Oberstein. Er litt unter Angstzuständen,
deshalb die Gitter. An schlechten Tagen geriet er wegen Kleinigkeiten außer
sich, tobte, prügelte.
Im 5. Schuljahr lasen wir im Deutschunterricht das Buch „Und
damals war es Friedrich“ – die Geschichte eines jüdischen Kindes in der Zeit um
die Machtergreifung Hitlers. Sein bester Freund erzählt, wie Friedrich aufgrund
seines Jüdisch -Seins ausgegrenzt, gedemütigt und letztendlich umgebracht wird.
Friedrich stirbt, weil er als Jude während eines Bombenangriffs nicht in den
Schutzkeller gelassen wird. Langsam aber sicher begriff ich in dieser Zeit,
dass diese Geschichte sehr viel mit meiner Familie zu tun hat. Ich versuche mit
meiner Mutter darüber zu reden. Aber mehr als „Es ist besser, wenn niemand
weiß, dass wir Juden sind“ bekam ich von ihr nicht zu hören. In der
Schulbibliothek besorgte ich mir alle Bücher, die irgendwie mit dem Thema Juden
und Nazis zu tun haben und verschlang sie heimlich. Ich war fassungslos: es
überschritt die Grenzen, dessen, was ich mir als Kind vorstellen konnte, was
ich in den Büchern über die Ermordung der Juden Europas lese. Fassungslos das
so etwas von dem Land in dem ich lebe vorangetrieben und von den Menschen
mitgetragen und mitgemacht wurden.
Durch meine Mitarbeit in der Schüler_innenvertretung erfuhr ich
von der Möglichkeit an einer Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz teilzunehmen.
Meine Mutter war außer sich, wollte es nicht erlauben. Weil eine der begleitenden
Lehrerinnen eine Freundin der Familie war und sie mit meiner Mutter redete,
durfte ich dann doch. Nach vier Vorbereitungswochenenden, an denen wir uns mit
der politischen Entwicklung Deutschlands, einzelnen Täterbiographien,
polnischer Geschichte und dem KZ-System der Nazis beschäftigt hatten, fuhren
wir für zehn Tage nach Polen. Führungen im so genannten Stammlager, in
Birkenau, durch die Länderausstellungen, Möglichkeit in Originalakten der Nazis
zu schauen und Erhaltungsarbeiten standen auf dem Programm. Jeden Abend trafen
wir uns im Plenum, erhielten Schreibaufträge und besprachen das Erlebte. Ich
besuchte einen ehemaligen Häftling des KZs, der im Stammlager wohnte und
übergab ihm im Auftrag eines Lehrers Fotos, die dieser von ihm gemacht hatte. Voller
Angst, die Bilder meines Opas im Kopf, trat ich ihm gegenüber. Er war ein
freundlicher alter Mann, der in einer Wohnung voller Bücher lebte und ein witziges
Deutsch sprach, ich erkannte eine Sprachmelodie wieder, die bei meiner Mutter
hin und wieder.
Ich war seitdem zweimal in Auschwitz und mehrere Male in
Buchenwald, ich habe viele Täterbiographien gelesen und einige Überlebende persönlich
kennengelertn: Kazimierz Smolen, Charlotte Opfermann, Sally Perel und vor
kurzem Ester Bejerano.
Über meinen Großvater konnte ich bis heute nichts in
Erfahrung bringen, meine Mutter erzählt die Geschichten immer wieder anders, meine
Stief-Oma hat alle Dokumente vernichtet. Einmal kam ein Brief aus der Schweiz,
auf Polnisch. Als ich ihn zum Übersetzen einer Mitschülerin geben wollte hat
meine Mutter ihn zornig zerrissen und verbrannt. Sie betonte immer wieder, dass sie mit dem
ganzen Mist ihrer Familie nichts zu tun haben wollte – und gleichzeitig erlebte
ich, wie sie eine Schallplatte mit jiddischer Musik kaufte und
leidenschaftliche mitsang. Sich einen David-Stern-Anhänger kaufte und ihn dann
aber mit einem Schal versteckte, wenn sie ihn trug. Als sie einen schweren Autounfall hatte, lief
sie aus Angst vor den Ärzten aus dem Krankenhaus davon. Irgendwann las ich in
einem Buch über die Traumata, die ehemalige KZ-Häftlinge auf ihre nach dem Krieg
geborenen Kinder übertrugen. Ich verstand auf einmal, warum meine Mutter
unseren Nachnamen mal mit einem Mal mit zwei E schrieb, große Angst vor
Menschen in Uniformen hatte und trotz all ihrer Extrovertiertheit versuchte,
keinem Deutschen Amt aufzufallen.
Ich bin als Schülerin allen auf den Keks gegangen, weil ich
immer wieder DAS Thema aufgriff, Zeitzeugenspräche organisierte, im
Geschichtsunterrichte einforderte nicht nur die Antike und das Mittelalter zu besprechen
und versuchte meine Schule dazu zu bekommen, eine Schule ohne Rassismus zu
werden. Ich wurde als Judensau im Bus beschimpft und es gab Galgenzeichnungen
mit meinem Namen daran. Damals hatte ich keine Angst. Als wieder Menschen von
Nazis in Deutschland umgebracht wurden, gab es Schweigeminuten in der Schule. Ich
trug T-Shirts mit dem Artikel 1 des Grundgesetzes und verfolgte am TV gebannt
das Heute Die- Morgen Du-Konzert. Ich fühlte das DU bin ich.
Mein Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus habe ich
nie eingestellt, habe Geschichte studiert und bin mit Jugendlichen in
Gedenkstätten gewesen. Seit einigen Jahren bin ich im Vorstand einer Stiftung,
deren Ziel es ist, Bildungsarbeit mit Jugendlichen zu fördern und Wissenschaftler_innen
bei der Bearbeitung des Holocaust zu unterstützen.
Etwas hat sich in den letzten Jahren bei mir verändert. Die
Zuversicht, dass die Menschen in diesem Land, die Menschen auf der ganzen Welt
wirklich aus der Geschichte gelernt haben. Ich glaube nicht mehr daran, dass
das „NIE WIEDER“ das Politiker_innen zu jedem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
oder jedem anderen Anlass von gegeben haben, tatsächlich als Versprechen gelten
kann, das Menschen nicht aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion, ihres Geschlechts,
ihres Anderseins oder ihrer Herkunft verfolgt, ermordet, gedemütigt und
ausgeraubt werden. Ich habe Angst. Angst um meine Kinder, die jüdische Vorfahren
haben und Eltern die sich politisch engagieren, unbequem sind. Angst vor der
Rückratlosigkeit meiner Mitmenschen. Denn „DIE“ ertrinken gerade im Mittelmeer,
werden in USA von ihren Kindern getrennt, die dann in Käfige gesperrt werden, werden
in Russland in Arbeitslager geschickt….die Unmenschlichkeiten unserer Zeit kennen
keine Grenzen.
Angst davor, wie schnell aus dem DIE ein WIR wird.
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