12/18/2014

Was ist so anders an der Pikler-Pädagogik?



„Wir haben doch auch alle laufen gelernt“ sagte neulich ein Student in meinem Seminar, in dem im Rahmen eines Referats die Pädagogik Emmi Piklers vorgestellt wurde.

Ja, das stimmt. Wir haben auch laufen, sitzen, selbstständig essen gelernt. Was ist also so besonders am der Pikler-Pädagogik? Was so anders, als die „normale“ Erziehung, die doch alle Eltern kennen und können?
Hier mein Versuch, darauf eine Antwort zu geben:

Die Achtung der Individualität
Emmi Pikler und ihre Mitarbeiterinnen hatten es sich zum Ziel gesetzt, den Säuglingen und Kleinkindern, die bei  ihnen im Heim, dem Lóczy, aufwachsen mussten, weil ihre Eltern sich nicht um sie kümmern konnten, ein gutes und umsorgtes Aufwachsen zu ermöglichen.  Diese Kinder sollten trotz des frühen Verlustes der engsten Bezugspersonen die Möglichkeit erhalten, zu gesunden und lebensfrohen Menschen heranzuwachsen.  Heimerziehung für Kleinkinder barg meist die Gefahr der emotionalen Verwahrlosung wie René A. Spitz es in seinenForschungsarbeiten aufdeckte.
Jedes Kind, so die These Emmi Piklers, muss als die individuelle Persönlichkeit geachtet werden, die es von Geburt an ist. Das bedeutet,  dass die Erwachsenen, die es versorgen und betreuen, sich die Mühe machen, seine Individualität kennenzulernen.  Dies geschieht vor allem durch aufmerksames Beobachten und wahrnehmen des Kindes und seiner Äußerungen.
Reagiert es auf laute Geräusche mit Anspannung oder macht es ihm nichts aus?
Ist es ein schnelles, waches Kind, das in kurzer Zeit viele Anregungen möchte oder ein ruhiges, langsames, das mit Bedacht eine lange Zeit mit nur einer kleinen Sache beschäftigt ist?
Mag das Kind den Schwamm lieber beim Waschen oder den rauen Waschlappen?
Was ist das Kind gerne, was nicht?

Diese Liste ließe sich unendlich weiterführen,  eben so lange wie es dauert, die Persönlichkeit eines Menschen zu beschreiben. Erlebt das Kind, dass die Erwachsenen, die es umsorgen, auf seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen eingehen, so erlebt es, dass es angenommen und ernst genommen wird. Dies wirkt sich positiv auf sein noch in der Entwicklung steckendes Selbstbild aus, denn das Kind erlebt „Meine Erwachsenen beachten mich, achten mich und reagieren auf mich, sie geben mir das, was ich möchte und auch wenn sie mich nicht immer gleich verstehen, so geben sie sich Mühe, mir gerecht zu werden.“ 

Bei der Kleinen Dame beobachte ich z.B. sehr deutlich, dass sie es nicht mag, wenn Menschen, egal ob groß oder klein, ihr zu nahe kommen, sie anfassen, hochnehmen oder sie gar küssen wollen. Mittlerweile  macht sie deutliche Gesten, die „Geh aus meinem Tanzbereich“ bedeuten und untermalt das mit einem lauten „NEEEE!“.  Völlig empört ist sie, wenn ihr Gegenüber diese Eindeutigkeit missachtet und begegnet dieser Person fortan mit einer gewissen Distanz.

 Ermöglichung einer selbstständigen Bewegungsentwicklung

Emmi Pikler stellte den Zusammenhang zwischen einer gesunden Entwicklung der Psyche eines Kindes und seiner selbstständigen Bewegungsentwicklung her. Kinder, so ihre Überzeugung, haben, wenn sie gesund sind, einen inneren Motor, der ihre Entwicklung antreibt. Was sie benötigen, um sich zu entwickeln ist dabei eine Umgebung, die ihnen ermöglicht in ihrem ganz eigenen Tempo ihren Weg zu gehen. Feste Unterlagen, die Widerstand bieten und sie nicht lähmen, bequeme, bewegungsfreundliche Kleidung, Bewegungsgeräte und Spieldinge, die offen sind und mit denen die Kinder nach ihrer eigenen Vorstellung und nicht nach der Vorstellung der Erwachsenen hantieren und tun können.
Außerdem brauchen Sie das Vertrauen, die Geduld und Begleitung ihrer Erwachsenen. Und das ist schwieriger, als alles andere. Wenn im Spielkurs schon alle Gleichaltrigen sich vom Rücken auf den Bauch drehen oder schon Krabbeln während das eigene Kind, „nur“ auf dem Rücken liegt. Das ist als Mutter schwer auszuhalten. Doch das Kind braucht gerade dann das Vertrauen, dass es alleine, ohne Turnübungen dazu kommen wird, seine Position zu verändern. Nimmt man ihm dieser Erfahrung, es alleine zu schaffen, legt man den Grundstein für eine künstliche Abhängigkeit des Kindes, die bei ihm zu Unzufriedenheit führt und das Gefühl aufkommen lässt „Nur mit tatkräftiger Hilfe, kann ich etwas erreichen“ und die Eltern in die Position bringt, dem Kind stets als Umdreher, Aufsetzer, an der Handführer zur Seite sein zu müssen.  Was das Kind braucht ist aber nicht die Hand, die es führt, das Kissen, das es stützt sondern vielmehr die echte Anteilnahme der Erwachsenen an seinem tun.


Neulich im SpielRaum: Lisa, 10 Monate, ist ein sehr aktives, bewegungsorientiertes Kind. Mehrmals an diesem Tag unternimmt sie den Anlauf, den Sprossenanbau vom Podest zu überwinden. Immer wieder rutschen die Füße ab, sie ist nicht zufrieden. Ihre Eltern sind beide da und schauen zu. Nachdem sie eine Weile mit etwas anderem hantiert hat, unternimmt sie einen neuen Anlauf. Es gelingt! Sie richtet ihren Blick in Richtung ihrer Eltern, sie strahlt mit dem ganzen Körper und erhält als Antwort einen liebevollen Blick „Wir haben gesehen, was du geschafft hast!“  Lisa genießt das Erlebte für einen Moment und widmet sich wieder einer anderen Tätigkeit. 



3    Bindungsorientierte Beziehung

Natürlich besteht zwischen jeder Mutter und jedem Vater und seinem Kind eine natürliche Beziehung, die in der Regel liebevoll ist.  Für den Aufbau einer sicheren Bindung bedarf es jedoch mehr. Je feinfühliger Erwachsene auf die Äußerungen des Kindes reagieren – und je prompter sie dies tun, umso sicherer fühlt sich das Kind in dieser Beziehung, es fühlt sich mit einem unsichtbaren Band verbunden, mit seinen Erwachsenen. Je stärker dieses Band ist, desto besser kann sich das Kind auf die Entdeckung seiner Welt einlassen, sich mit Dingen beschäftigen und offen sein für Neues.  Feinfühligkeit muss für das Kind auf seinen Kanälen erlebbar sein, damit diese Bindung entstehen kann. Die körperliche Versorgung nimmt dabei eine wichtige Rolle ein. Wie ich es in meinem Artikel „Wickeln in Frieden“ bereits beschrieben habe, erlebt das Kind dabei, ob es und sein Körper angenehm, aufmerksam und liebevoll gepflegt werden oder ob eine lästige Pflicht erledigt wird. Unser Kind wird keine Bindungsstörung bekommen, wenn es uns nicht immer gelingt (weil wir gerade auch mal aufs Klo müssen  oder Geschwisterkinder auch Bedürfnisse haben) direkt auf seine Bedürfnisse zu reagieren,  doch ein steter Tropfen höhlt den Stein.  

Der Große Junge will was. „Mama, kannst du mal kurz kucken, ich hab ein Bild gemalt.“. Ich: „Ja, gleich, ich mach nur noch schnell den Beutel in den Müll“ Fünf Minuten später, ich räume noch die SpüMa ein. „Mama, das ist so gemein, ich sitze hier und du lässt mich warten“. 

Wie gut, dass er das sagen kann und nicht verstummt ist, in der Resignation, dass ich ja doch kein Interesse an seinem Tun habe. Bindungsarbeit hört nie auf.

  Absolute Gewaltfreiheit


Jede Geste, jeder  Blick, jeder Handgriff, jede Berührung hinterlässt Spuren beim Kind. So sagte es Anna Tardos vor ein paar Jahren inSalzburg auf einer wunderbaren Tagung. Dieser Satz legt uns Erwachsenen die Verantwortung auf, uns stets dahin zu überprüfen, welche Spuren wir bei den Kindern hinterlassen.  Ein Löffel, der gegen den Willen des Kindes in den Mund geschoben wird, damit es schneller geht mit dem Mittagessen. Gewalt. Ein Blick der Verachtung, weil zum dritten Mal das Pipi in die Hose und nicht ins Klo gegangen ist. Entwürdigend für das Kind. Ein ungefragtes Naseputzen des Kindes, das gerade in ein Buch vertieft ist: respektlos.  Babys, die stundenlang in MaxiCosis durch die Stadt geschoben werden, in denen sie sich kaum bewegen können: eingesperrt.
Es ist eine absolute Stärke der Pikler-Pädagogik, dass Gewaltfreiheit gegenüber den Kindern  die höchste Maxime ist.  Wenn ein Kind keinen Hunger oder Appetit hat, dann darf der Erwachsene es nicht zwingen, zu essen oder zu trinken sondern muss es akzeptieren. Und herausfinden, woran es liegt, das es nicht essen mag. Doch wir sind es leider gewöhnt, über den Kopf der Kinder für sie zu entscheiden, was wie sie gerade tun sollen und das dann auch mit ihnen zu machen. Gelingt jedoch das Abwarten,  das Aushalten, das Raum geben und bieten wir ihnen echte Kooperation an, so gehen sie vielleicht im Schlafanzug in die Krippe und bekommen erst dort einen frische Windel (so geschehen mit der Kleinen Dame vor ein paar Tagen), doch wir ersparen uns die furchtbare Erfahrung, unser Kind festzuhalten, zu zwingen, es grob anzufassen und ihm diesen Vertrauensbruch, dass wir liebsten Menschen ihren Willen und ihre Person nicht achten.

Was ist also anders an der Pikler-Pädagogik? 

Kinder werden von Beginn an als vollwertige Menschen anerkannt und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt gestellt. In der Pikler-Pädagogik müssen nicht die Kinder sich den Erwachsenen anpassen, sondern die Erwachsenen den Kindern. Dabei geht es nicht darum, dass die Kinder die "Macht" übernehmen, sondern dass die Erwachsenen ihre "Macht" nicht auszunutzen, sondern den Kindern als liebevolle, achtsame Beziehungspersonen begegnen, die bereit sind, über sich und das was wir so als normal finden und erwarten nachzudenken und ich Frage zu stellen. 




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